Dienstag, 08. Juli

Veröffentlichung von ox vom 14.05.2007 in der Rubrik Freiheit.

 

A-n-n-e

Ich glaube, es war kurz nachdem ich mein fünfzehntes Lebensjahr angetreten hatte, als ich mir mit dem Küchenmesser - meiner damals noch kochwütigen Mutter - die Pulsadern auftrennte. Metzgergleich schnitt ich - quer - knapp vor meinem Handgelenk in die noch feine Haut hinein. Siebenmal tat ich dies - sieben war zu der Zeit meine Lieblingszahl - müsst Ihr wissen.
Meine Mutter fand mich halb im Koma - blutverschmiert - da ich mir den Spaß erlaubt hatte, meinen Körper von Kopf bis Fuß damit einzureiben - damit der Effekt besser sei - auf dem kalten Fliesen des Küchenbodens.

In der Klinik versorgt und gehegt - wie ein zerbrechliches Ei - verheilten die Wunden trotz der Verbände nur schlecht, da ich sie immer wieder ablegte um meine Tat zu betrachten. Daraufhin wurde mir schließlich mein Walkman abgenommen und der Verband angeklebt, statt ihn nur mit Sicherheitsklammern zu befestigen.

Der Psychiater, der trotz Widerwillen meiner Mutter, täglich mein Bett besuchte, roch nach gutem Aftershave und trug eine kleine Brille - ähnlich wie John Lennon. Da ich ihm nicht meinem Seelenschmerz anvertrauen wollte, erzählte er mir ständig von meinen möglichen Leiden, von denen ich mir nur eines aussuchen sollte - kam mir vor wie in einem Süßigkeitenlädchen, in dem es darum geht den leckersten Fund zu machen.

Eines Nachts, als ich anscheinend wie am Spieß schrie, wurde ich von einer Schwester geweckt. Was denn los sei, ob ich Alpträume hätte, fragte sie. In Erinnerung blieb mir nur das Bild meines Vaters, der mit 58 Jahren - er war zehn Jahre älter als meine Mutter - an einem Autounfall - selbst verschuldet und alkoholisiert - verstorben war.
Der Psychiater, Herr Klaus, Peter Klaus - ich nannte ihn immer Klaus, du altes Scheißhaus oder Klaus, die Labormaus - aufgrund seiner Brille - was er gar nicht witzig fand - behauptete, ich hätte ein frühkindliches Trauma erlitten und sei daher - mein zweiter Suizid in der Badewanne war gerade eine Woche her - so ungemein todessüchtig.
Ich fragte ihn, ob er sich schon einmal das Leben hätte nehmen wollen und bekam keine Antwort - jedenfalls keine richtige - nur so bla bla von wegen mal darüber nachgedacht, aber nie getan usw. .
Daher kannte er auch das unbeschreibliche Gefühl nicht, welches mich knapp vorm Abkratzen überkommt. Dieses absolute Glücksgefühl - der Druck - die Angst - alles weg - futschikado - nur noch den absoluten Moment erleben, die Seele im Körper spüren, der mit aller Kraft versucht diese zu halten und dann macht es platsch und du bist weg.
Besser als jede Droge - und Ihr müsst mir glauben da kenne ich mich aus - lässt dieses Nahtoterlebnis jeden Schmerz in Euch erlischen.

Der dritte Versuch wäre mir fast geglückt. Noch während meines Aufenthalts in der Kinder- und Jugendpsychiatrie - ja, mittlerweile war ich dort angekommen - hatte ich aufgrund meines tadellosen Benehmens - Ärzte sind so leicht zu täuschen - die Möglichkeit, einen Ausflug in die nahe Stadt zu machen. Obwohl ich in ständiger Begleitung meiner depressiven Bettnachbarin war, gelang es mir, eine kleine Glasscherbe unbemerkt in die Geschlossene zu schmuggeln.

Nachts - das unregelmäßige Schnarchen meiner schlafenden Leidensgenossin namens Susi Metzger - wie passend - raubte mir fast täglich - oder sagt man nächtlich - den Schlaf, hatte ich die Scherbe schon zehn mal über meine nackte, vernarbte Unterseite meines linken Arms ratschen lassen, als das Licht der Kontrolle anging.
Ich verschwand - hellwach, aber schnarchend wie die Metzger - unter meine Decke.

 
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Kommentare zum Text "A-n-n-e":

bp
schreibt am
15.05.2007 (11:02 Uhr)
Nahtod

Schade, dass deine beiden letzten Stories immer an einem gewissen Punkt, so etwa ab dem letzten Drittel, abbrechen, den Faden verlieren und mit einer Art Resumee überzogen enden. Wenn Du mit mehr Atem an die Sachen gehen würdest, stelle ich mir die Arbeit och um einiges besser vor.


 
Gast
schreibt am
15.05.2007 (16:39 Uhr)
Sorge

Obwohl du mit einer gewissen Ironie an die Sache heran gehst, was ich künstlerisch wirklich gut finde und deshalb auch echt lesenswert, habe ich dennoch das Gefühl, dass der Selbstmordversuch verherrlicht wird und das finde ich schon etwas gefährlich, wenn Leute dies lesen sollten, die selbst mit dem Gedanken spielen...
Beim lyrischen Ich irritiert mich, dass es den Tod selbst gar nicht anzustreben scheint, sondern vielmehr diese gefährliche Art der Provokation oder verstehe ich das falsch?


 
ox
schreibt am
15.05.2007 (17:08 Uhr)

Dieser Text soll in keiner Weise den Selbstmord verherrlichen. Er soll vielmehr zeigen, dass er immer als letzte Fluchtmöglichkeit steht, um mit seinen -häufig tiefsitzenden Problemen- aus dem Weg zu gehen. Auch der Aspekt des Hilfeschreis sollte zum Ausdruck kommen.
“ Liebt mich so wie ich bin, auch wenn es euch nicht gefällt “.
Und für alle die sich zu sehr inspiriert oder betroffen fühlen: „ Das Leben ist schön wirklich schön. Lebe, den Moment, das Hier und Jetzt -in der die Realität und nicht in deiner Einbildung- denn dort ist alle Sicherheit verborgen“.


 
Hirnsuppe
schreibt am
15.05.2007 (18:16 Uhr)

es hätte ein bisschen tiefer, subjektiver und düsterer sein können...für meinen geschmack zumindest x) ansonsten aber nicht schlecht ran gegangen an das thema.
vor allem die rubrik, die du gewählt hast, um diesen text zu veröffentlichen zeigt deutlich, dass du ganz genau zu wissen scheinst, wovon du da sprichst. find ich gut :)


 
dk
schreibt am
15.05.2007 (18:35 Uhr)

auch ich denke nicht, dass der text anreize zum suizid bietet. ich finde er beschreibt äußerst gut. seis das bewusstsein über den effekt, keine ahnung, wie man seiner mutter bewusst so etwas derart schlimmes antun kann, das süßigkeitenlädchen, wenn auch klaus das scheißhaus nicht weiter weiß, pubertär bis in die letzte faser.
dieser text schreckt ab, denn er zeigt, wie wenig lebensbejaend jemand das leben an sich erlebt. er zeigt gut, wie wenig bewusst sich jemand über das eigene leben ist, wie wenig man es schätzen kann, wie sehr man andere leute quält, denkst man täuscht jenen hier und jenen da, und täuscht sich doch nur selbst. er beschreibt ungefiltert das erleben in einer psychischen störung.
tötungsversuche mit pulsaderschnitt sollen oft einfach nicht glücken, soviel zu, er wäre fast geglückt. was er bewirkt ist, dass endlich alle um einen herumwuseln und sich kümmern. darüber zu spotten ist dann scheinbar low aber heilbar. das zeigt der text hervorragend.
suizid ist nichts verwerfliches meiner meinung nach, er ist ein weg, für viele glücklicherweise dann der letzte. jeder kann frei wählen. man sollte ihn nur auch begehen und nicht mit ihm und mit den mitmenschen spielen. er soll qualen beenden. das ist sein zweck.


 
hirnZ
schreibt am
16.05.2007 (11:15 Uhr)

kein applaus für dk :(
viel zu akademisch...


 
dk
schreibt am
16.05.2007 (12:17 Uhr)

ich war persönlich nie betroffen und es gibt, wie zu jedem anderen thema auch, verschiedene betrachtungsweisen. meine ist nunmal auch die berufliche. ich finde das thema weder besonders geil noch brauche ich deinen applaus, hirnZ.
persönlich bin ich der meinung, dass diese reflektierte sichtweise, der umgang, das spiel mit selbstmord ungemein egoistisch ist. man lebt nicht allein in dieser welt, es gibt oft menschen, die einen lieben. diese leiden so unendlich unter diesem spiel. man tötet nicht nur sich selbst, sondern auch teile der seele liebender menschen, und das ist das perverse an diesem spiel.


 
ja
schreibt am
16.05.2007 (14:29 Uhr)

Ich finde, der Freitod beendet meist wenig. Ein Thema, das mich mal viel beschäftigt hat. Man verhandelt dabei eine Absurdität, fand ich für mich heraus. Im Grunde ist die Selbst-Tötung an sich nicht der eigentliche Akt. Die Selbst-Vernichtung findet vorher statt.
Deine Texte, ox, rufen in mir Assoziationen zur klassischen Hysterie-Diagnose hervor (die wohl wieder im Kommen ist), dass es dabei um Inszenierung geht, um Selbstdarstellung, aufgrund eines fehlenden oder irgendwie defekten Selbstbildes. Das bildest Du eigentlich ganz gut ab. Es ist nur irgendwie nicht immer konsequent literarisch.
Die Psychiater- und die Vaterabschnitte bringen mich raus. Mehrmals angesetzt, und jedesmal an der Stelle schlaffte die Erzählung ab. Ich weiß nicht, ob es das ist, was bp meint.


 
dk
schreibt am
16.05.2007 (18:42 Uhr)

der freitod beendet alles. auch die ganz kleine freiheit, die man hat. man vernichtet dabei nur sich in dem unaufhaltsamen akt der selbstvernichtung. ich glaube vollkommene freiheit ist ein trugschluss des lebens, wie des todes.
die histrionische störung in ihrer schönst ausgeprägten form triffts hier am besten, manfred ;)
mich nimmt weder der psychiater noch der vater aus dem text raus. ich kann ihn, ohne das gefühl zu haben, den roten faden zu verlieren, lesen.


 
hirnZ
schreibt am
17.05.2007 (02:31 Uhr)

Wie kannst du das wissen, dk? Wie nahe warst du denn jemals dran? Und die Aspekte?
man vernichtet sich selbst im Akt des Selbstvernichtens sagst du...und im selben Atemzug, die vollkomme Freiheit sei ein Trugschluss sowohl des Lebens als auch des Todes. Tut mir nicht leid, nein; sieht irgendiwe eher so aus, als würde es auf die vollkommene Freiheit nur hinauslaufen...
pathologische Bewertungen sind frei von ehrlicher Subjektivität.
dk geht an schrägheit ran, als sei's ne morbide krankheit.
Schizophrene Wesen - dualer Kosmos. Perfekt.


 
ja
schreibt am
17.05.2007 (08:53 Uhr)
ICD/DSM kontra manipuliertes Mitgefühl

Das entscheidende an Diagnosen ist ja nicht eine Stigmatisierung durch "Kranksprechung". Bewertung ist ein Nebenprodukt bei dem Bemühen, objektiv zu Beobachten. (Ich finde, das schließt subjektive Ehrlichkeit nicht aus; ergänzt sie lediglich.) Für die Inszenierende ist es aber kränkend wenn ihr Verhalten auf diese analysierende Weise relativiert wird. Das ist dann aber auch nicht ganz ehrlich. Sie muss sich dann eingestehen, dass sie nicht die gewünschte Kontrolle über die Reaktionen auf ihre Tat bekommen hat. Das heißt, sie muss erkennen, dass es um Kontrolle ging, um Macht. Im Grunde der erste Schritt zur "Heilung".
Zur Pathologie: Krank und vernarbt sind wir alle. Das Inszenierungsverhalten ist unterschiedlich.


 
la
schreibt am
17.05.2007 (10:23 Uhr)
grübel...

...der Text, den ich gut gestaltet finde und vor allem spannend zu lesen, bringt mich ins Nachdenken über Selbstmord...
Es kommt mir bei vielen solcher Berichte/ Geschichten meistens vor wie der Lebenswille pur, mit dramatischem Soundtrack, mit größtem Nachdruck. Also eher keine Todessehnsucht...nicht bei solch "wütenden Versuchen". Was ich immer mehr fühle dazu - besonders bei dieser Geschichte ist die scheinbare Sucht nach Grenz(en)erfahrung.
Immer dort, wo wir an Grenzen unseres Selbst stossen, lernen wir, erfahren wir uns und andere, gehen wir in unsere Tiefe: Das ist Leben pur. Wer nicht gelernt hat, sich selbst ( im Positiven) Grenzen zu stecken, sie zu überwinden, neue zu finden, der sucht und sucht immer weiter...und je weniger man sich traut sich innerlich zu überwinden, desto mehr muß es mit dem eigenen Körper sein...
Würde mein Kind so (re)agieren, ich würde es halten Wollen, irgendwie, ihm helfen die Grenze zu finden....


 
dk
schreibt am
17.05.2007 (11:37 Uhr)

ich stelle es mir genauso vor. da muss ich dem tod nicht nah gewesen sein. du hast halt eine andere philosophie über das leben, den tod als ich, hirnZ. ich denke, dass das freiheitsgefühl im nahtod ebenfalls nur eine illusion sein kann. das einzige was du in diesem moment tatst, ist über deinen tod/dein leben frei entscheiden - das tue ich auch, unspektakulärer, mit jeder sekunde meines "normalen" lebens ohne mir dabei die pulsadern aufschneiden zu müssen. ich mag diese diagnose, weil sie einen strich durch die rechnungen macht.
auch unter schrägheit verstehe ich etwas anderes. jeder kann permanent versuchen sich das leben zu nehmen, wenn es keine anderen menschen geben würde, die darunter leiden. von mir aus könntet ihr alle irgendwo hinpilgern und euch gegenseitig in den nahtod ritzen. mir vollkommen latte. mir gehen diese inszenierungen nur auf den sack.
hätte das lyrische ich sich töten wollen, hätte es die scherbe nicht in die klinik geschmuggelt, um da wieder so ein heckmeck zu veranstalten, sondern hätte sich in der stadt von der bettnachbarin entfernt, sich einen ruhigen platz in nem waldstück gesucht, einen geraden schnitt im pulsaderbereich gesetzt und wäre in aller ruhe eingeschlummert.
wenn du glaubst, dass ein zweiter kosmos nur im erleben einer schizophrenie existiert, dann hast du entweder wenig phantasie oder verschaffst dir zu wenige grenzwertige erlebnisse fernab von nahtoderlebnissen. immernoch zu wenig subjektive meinung?


 
ox
schreibt am
17.05.2007 (12:14 Uhr)

Letzlich geht in diesem Text mehr um das befreiende Gefühl, welches sich knapp vor dem Tod auf Grund der massiven Endorphinausschüttung ergibt. Es ist ein Gefühl, so wurde mir zumindest beschrieben, von unglaublicher Intensität und ist nicht vergleichbar mit anderen extremen Erfahrungen.
Ich für meinen Teil würde trotzdem die Extremerfahrungen des Lebens denen des Todes vorziehen.


 
dk
schreibt am
17.05.2007 (12:25 Uhr)

"Letzlich geht in diesem Text mehr um das befreiende Gefühl, welches sich knapp vor dem Tod auf Grund der massiven Endorphinausschüttung ergibt."

ich habe vieles in erster linie herausgelesen aber das nicht.
so gebe ich mich weiterhin mit sexuellen erlebnissen sowie weiteren höhenflügen zufrieden, und verbleibe mit freien grüßen zum heutigen freien tag, eure, wie eine klette am leben hängene, dk.


 
la
schreibt am
17.05.2007 (12:27 Uhr)

ja, genau so kommt das im Text auch herüber, finde ich.
Ist echt ein Extremsport...vielleicht sollte man mal ein SportExtra drüber drehen...;)
Dann wäre es in der Skala Ernsthaftigkeit auch gleich richtig einsortiert.


 

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