Ein Pfad in die Nacht
Es war dunkel. Überall. Im Schloß, im Hof, über dem steinigen Weg, der zum Schloß führte, auf der ganzen Welt. Dieses Dunkel hatte sich rasend schnell ausgebreitet, Besitz von allem Leben genommen, um für immer dessen Erinnerung auszulöschen. Doch in ihr, in ihrem Herzen lag die übermächtigste Dunkelheit. Sie war leer. Keine menschliche Regung war mehr ihr eigen. Sie war vollkommen ausgehöhlt. Die letzten Stunden, die letzten Jahre, ihr ganzes Leben war vergessen; es war nie gelebt worden. Alles war in die Dunkelheit der Vergangenheit gestoßen worden. Ihr Gesicht, ihr hagerer Körper, ihre Seele zeugte von ihrem Tod. Wenn nicht ihr Herz in ihrem gepeinigten Körper rasen würde! Sie war ein Gegenstand. Ja, sie war das Abbild einer einstmals sehr schönen Frau mit einem blutigen Kerzenhalter in ihrer knochigen Hand. Ihr totenbleiches Antlitz fügte sich harmonisch in das grausige Inventar des mittelalterlichen Schloßes in den Tiefen Schottlands ein. Der herabhängende Leuchter, der nur noch wenige Kerzen besaß, warf ein schauriges Licht in den hohen Saal. Das Schloß hatte seine Blütezeit weit hinter sich gelassen. Schäbige Möbel, billige Bilder und zerschlissene Stoffe zierten die zahlreichen Prunkgemächer.
Die Kirchenglocke des nahegelegenen Ortes drang gedämpft zum Schloß herauf. Der heruntergekommene Mob dieser Gegend gab der garstigen McFallern das letzte Geleit. Die alte Hexe wollte unbedingt in einer sternenlosen Vollmondnacht das Zeitliche segnen. Und sie hatte es geschafft!
Der trockene Wind heulte durch die Ritzen des Schloßes. Sie lächelte. Sollte sich das garstige Weib doch in dieser unheiligen Nacht verscharren lassen und glauben, sie würde als treue Christenseele gegen alle dunklen Mächte gefeit sein. Oh, Old McFallern hatte die Schloßherrin gehaßt. Die beiden Frauen hatten sich gegenseitig beschuldigt, mit dämonischen Mächten in Verbindung zu stehen.
Und wer würde nun als erste zur Hölle fahren?
Vom Hof klang das unruhige Scharren von Pferdehufen herauf. Der alte Butler verließ das Schloß. Er wollte den grausigen Ort verlassen. Er fürchtete wohl, er könne der Nächste sein. Dieser unheilige Ort forderte seine Opfer. Sie konnte seine Angst spüren. Von Todesangst getrieben, jagte er den schmalen Weg hinab. Er würde sich den Hals brechen. Der steinige Pfad führte unaufhörlich am Abgrund entlang. Kein Busch, kein Stein würde ihn auffangen. Der Strudel auf dem Meeresgrund zog die Wanderer unnachgiebig an. Der alte Butler mußte achtgeben, wie er trat. Ein wissendes Lächeln huschte über ihr altes Gesicht.
Ein dunkler Schatten fiel über ihr bleiches, knochiges Gesicht. Sie hörte das regelmäßige Ticken der Standuhr. Ein Käutzchen kündigte Gefahr an. Es mußte sich im Turm verirrt haben.
Die Gefahr war für sie vorüber. Ihre grünen Augen nahmen ihren ursprünglichen Glanz an. Das Herz beruhigte sich ein wenig. In ihr regte sich Leben. Sie lächelte. Wenn man in ihr gegenüber von Leben sprechen konnte!
Sie sah an sich hinunter. Schäbig war sie gekleidet. Ein einstmals prachtvolles Samtkleid nannte sie ihr eigen. Die nackten Füße waren blutverschmiert. Ihre Augen wurden größer.
Blut! Überall war Blut! An ihrer Kleidung, auf dem Fußboden.
Sie wischte sich mit der rechten Hand über die Stirn. Ihre Augen wanderten durch den Saal. Sie erkannte zum wiederholten Male, warum sie diesen Ort so abgrundtief haßte. Ihr Blick fiel auf einen wackligen Stuhl. Das schaurige Licht fiel auf ihren Sohn, der merkwürdig gekrümmt über der Armlehne hing.
Liebevoll lächelnd neigte sie den Kopf. Er wirkte, als wäre er noch am Leben. Sein Antlitz war der des kleinen Jungen, den sie abgöttisch geliebt hatte. Haßerfüllt starrte sie ihre Schwiegertochter an, die in an den Türrahmen gelehnt worden war. Dieses Biest war nicht das unschuldige Bauernmädchen gewesen, wie sie allen versucht hatte vorzugaukeln. Die Schloßherrin hatte ihren Einfluß auf den über alles geliebten Sohn mit wachsendem Argwohn beobachtet. Doch nun war sie tot.
Der alte Kater miaute kläglich auf. Sie packte ihn am Nacken und hob ihn hoch. Da erkannte sie, daß sie noch immer die Mordwaffe Hand hielt. Tränen traten in ihr altes Gesicht. Sie hatte ihren Sohn damit nicht schlagen wollen. Hätte er sich ihr nur nicht von hinten genähert. Warum hatte er sie nur töten wollen? Hatte sie ihm nicht alles gegeben, was eine Mutter einem Sohn schenken kann? War der Einfluß dieses Teufels in Bauerngestalt so übermäßig gewesen?
Oh, sie hätte früher eingreifen sollen.
Ihr Gesicht nahm einen weichen Ausdruck an, als sie sich ihrem toten Sohn näherte. Liebevoll strich sie über seine bleiche Wange. Sanft fuhr sie mit der alten Hand über seine starren Augen. Sie konnte seinen Blick nicht ertragen. Waren seine strahlenden Augen nicht vor langer Zeit einmal voll Liebe zu seiner Mutter gewesen? Doch das lag weit in der Vergangenheit. Er war tot. Nichts konnte diesen Umstand ändern. Sie umfaßte ihn, um ihn gerade gegen die Lehne zu setzen. Er sollte majestätisch wirken. Sein Adelsgeschlecht war viele hundert Jahre alt.
Wütend richtete sie sich auf. Wollte sie jetzt sentimental werden? Zwei Menschen hatte sie in dieser dunklen Nacht getötet. Zwei Teufel, die versucht hatten, sie zu töten, nachdem alles andere versagt hatte. Nach fünf Jahren erbitteren Kampfes um die Macht über diese ehrlose Familie hatte der Stärkere gesiegt.
Der Tod! Sie streichelte das einzige Wesen, das immer treu zu ihr gestanden hatte. Ihr Sohn war schon vor Jahren gestorben. Der Mann in dem Sessel war ein Fremder, auch wenn er wie ihr Sohn aussah. Ihren Onkel hatte sie in den schloßeigenen Brunnen gestoßen, nachdem er versucht hatte, sich ihr unsittlich zu nähern. Sie hatte ihn gehaßt. Dem Fettwanst hatte sie die morschen Steine der Brunnenmauer hinterhergeschickt. Aus Angst um die Schloßherrin wurde das alte Gemäuer zugemauert. Seitdem wurde dieser Ort gemieden. Schaurige Geschichten ranken sich um darum. Der Geruch des Todes würde jedem entgegen wehen.
Ihr Mann war eines nachts wie wahnsinnig aus dem Schloß gerannt. Die Sterne hatten hell am Himmel gestanden. Die Lichtverhältnisse waren geeignet für einen Abendspaziergang gewesen. Doch ihr Mann hatte sich von dem Abgrund direkt über dem Strudel angezogen gefühlt. Ohne auch einmal stehen geblieben zu sein, stürzte er in das dunkle Meer. Ein Verlust war es für sie nicht gewesen. Sie hatte ihn nie geliebt. Was immer er getan hatte; es war ihr egal gewesen. Deshalb entstanden Gerüchte.
Sie zuckte mit den Schultern. Sie hatte nie viel auf diese Art von Gerede gegeben. Vielleicht hatte sie ihren Gemahl wirklich getötet? Es würde wohl nie jemand erfahren.
Sie setzte sich. Ihre Gedanken sollten sich mit dem Kommenden befassen. Doch sie sah sich geistesabwesend um. Der Tod war kein gefällige Geselle. Ihre Schwiegertochter hatte einen größeren Lebenswillen besessen, als sie ihr zugetaut hatte. Das Schlafgemach war vollkommen zertrümmert worden. Blut befleckte die Wände.
Erst jetzt bemerkte sie, daß sie nicht ganz unversehrt aus diesem Kampf hervorgegangen war. Ihre alte Arme waren zerkratzt. Doch sie fühlte keinerlei Schmerz, den der Stolz über ihren Sieg stärkte sie. Ihr Rücken fühlte sich dumpf an. Hatte sie doch ihre Schwiegertochter über die Haupttreppe durch mehrere Gänge schleppen müssen. Hier in diesem Saal war sie ihrem Sohn begegnet, der den Tod seiner Gemahlin erstaunlich gut verkraftet hatte. Jedoch wollte er den Tod seiner Mutter trotzdem herbeiführen. Diese war ihm erst ausgewichen, hatte ihn versucht zu beruhigen. Sie wollte ihn doch nicht verlieren. Aber er hatte sein Schicksal gewählt. Trotz ihrer geringeren körperlichen Stärke hatte sie ihn mit einem Hieb getötet.
Sie roch Rauch. Einen schweren Kerzenleuchter hatte sie wahrscheinlich während des Leichentransportes umgestoßen.
Sie schlug ihre langen Finger in das verwilderte Fell des Katers. Dieser jaulte jämmerlich auf. Er versuchte sich zu befreien.
Fühlte er, was sie vorhatte?
Sie richtete sich auf. Ohne sich noch einmal umzusehen, ging sie die langen dunklen Gänge entlang. Ihr Gang war ruhig, aber etwas steif. Kein Licht beleuchtete ihren Weg.
Wußte sie, wohin sie ihre Füße trugen? Ihr Leben war das Einzige, was ihr geblieben war.
Barfuß schritt sie über den finsteren Hof der Steinküste entgegen. Der bleiche Mond versteckte sich hinter pechschwarzen Wolken. In dieser Dunkelheit schritt sie sicher am Abgrund entlang.
Einem inneren Drängen folgend, blieb sie stehen. Sie benötigte nur einen Schritt, und das der Strudel würde alles beenden. Die schäumenden dunklen Wellen zogen ihren Blick an. Die Bewegung des ungezügelten Wasser ging in ihre Seele über. Sie konnte das unbarmherzige Element fühlen. Es würde freudig aufnehmen und ihr ihre Schmerzen verscheuchen. Die Wellen würden sie umfangen und sie in eine freundliche Welt führen. Sie könnte das Glück fiden, nachdem sie sich immer gesehnt hatte. Diese Welt würde sie erlösen.
Sie fühlte sich leicht. Sie glaubte, fliegen zu können. Wenn sie jetzt ihre Flügel ausbreiten würde, könnte sie das Innere des Strudels erreichen. Eine unbändige Sehnsucht erfaßte sie. Sie wollte eins werden mit den eiskalten Wellen. Sie konnte sie doch schon fühlen; diese unmenschliche Kraft, die Unsterblichkeit dieses Elementes.
Ihr Kopf streckte sich zu den Wolken. Sie schloß ihre Augen. Sie fühlte, wie die Wellen über sie zusammenschlagen würden. Das Wasser würde nicht kalt sein, nicht für sie. Es würde sie willkommen heißen.
Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Ihr Blick fiel auf den schmalen Weg. Am Ende dieses gefährlichen Pfades lag der häßliche Ort. Doch wohin könnte er sie führen? Wenn nun dahinter eine völlig neue, aufregende Welt für sie liegen würde?
Neugierde stieg in ihr auf. Sie hatte die Möglichkeit, frei zu entscheiden. Ihr Blick wandte sich ein letztes Mal dem Schloß hinauf. Es stand vollkommen in Flammen.
Die Wellen rauschten, als würden sie sie rufen, zu sich zu kommen. Ihr Augen wechselten von dem steinigen Weg zu den lockenden Wellen. Sie zögerte eine ganze Weile. Doch dann wußte sie, was sie zu tun hatte. Eine neue Welt würde sich ihr auftun.Es war dunkel. Überall. Im Schloß, im Hof, über dem steinigen Weg, der zum Schloß führte, auf der ganzen Welt. Dieses Dunkel hatte sich rasend schnell ausgebreitet, Besitz von allem Leben genommen, um für immer dessen Erinnerung auszulöschen. Doch in ihr, in ihrem Herzen lag die übermächtigste Dunkelheit. Sie war leer. Keine menschliche Regung war mehr ihr eigen. Sie war vollkommen ausgehöhlt. Die letzten Stunden, die letzten Jahre, ihr ganzes Leben war vergessen; es war nie gelebt worden. Alles war in die Dunkelheit der Vergangenheit gestoßen worden. Ihr Gesicht, ihr hagerer Körper, ihre Seele zeugte von ihrem Tod. Wenn nicht ihr Herz in ihrem gepeinigten Körper rasen würde! Sie war ein Gegenstand. Ja, sie war das Abbild einer einstmals sehr schönen Frau mit einem blutigen Kerzenhalter in ihrer knochigen Hand. Ihr totenbleiches Antlitz fügte sich harmonisch in das grausige Inventar des mittelalterlichen Schloßes in den Tiefen Schottlands ein. Der herabhängende Leuchter, der nur noch wenige Kerzen besaß, warf ein schauriges Licht in den hohen Saal. Das Schloß hatte seine Blütezeit weit hinter sich gelassen. Schäbige Möbel, billige Bilder und zerschlissene Stoffe zierten die zahlreichen Prunkgemächer.
Die Kirchenglocke des nahegelegenen Ortes drang gedämpft zum Schloß herauf. Der heruntergekommene Mob dieser Gegend gab der garstigen McFallern das letzte Geleit. Die alte Hexe wollte unbedingt in einer sternenlosen Vollmondnacht das Zeitliche segnen. Und sie hatte es geschafft!
Der trockene Wind heulte durch die Ritzen des Schloßes. Sie lächelte. Sollte sich das garstige Weib doch in dieser unheiligen Nacht verscharren lassen und glauben, sie würde als treue Christenseele gegen alle dunklen Mächte gefeit sein. Oh, Old McFallern hatte die Schloßherrin gehaßt. Die beiden Frauen hatten sich gegenseitig beschuldigt, mit dämonischen Mächten in Verbindung zu stehen.
Und wer würde nun als erste zur Hölle fahren?
Vom Hof klang das unruhige Scharren von Pferdehufen herauf. Der alte Butler verließ das Schloß. Er wollte den grausigen Ort verlassen. Er fürchtete wohl, er könne der Nächste sein. Dieser unheilige Ort forderte seine Opfer. Sie konnte seine Angst spüren. Von Todesangst getrieben, jagte er den schmalen Weg hinab. Er würde sich den Hals brechen. Der steinige Pfad führte unaufhörlich am Abgrund entlang. Kein Busch, kein Stein würde ihn auffangen. Der Strudel auf dem Meeresgrund zog die Wanderer unnachgiebig an. Der alte Butler mußte achtgeben, wie er trat. Ein wissendes Lächeln huschte über ihr altes Gesicht.
Ein dunkler Schatten fiel über ihr bleiches, knochiges Gesicht. Sie hörte das regelmäßige Ticken der Standuhr. Ein Käutzchen kündigte Gefahr an. Es mußte sich im Turm verirrt haben.
Die Gefahr war für sie vorüber. Ihre grünen Augen nahmen ihren ursprünglichen Glanz an. Das Herz beruhigte sich ein wenig. In ihr regte sich Leben. Sie lächelte. Wenn man in ihr gegenüber von Leben sprechen konnte!
Sie sah an sich hinunter. Schäbig war sie gekleidet. Ein einstmals prachtvolles Samtkleid nannte sie ihr eigen. Die nackten Füße waren blutverschmiert. Ihre Augen wurden größer.
Blut! Überall war Blut! An ihrer Kleidung, auf dem Fußboden.
Sie wischte sich mit der rechten Hand über die Stirn. Ihre Augen wanderten durch den Saal. Sie erkannte zum wiederholten Male, warum sie diesen Ort so abgrundtief haßte. Ihr Blick fiel auf einen wackligen Stuhl. Das schaurige Licht fiel auf ihren Sohn, der merkwürdig gekrümmt über der Armlehne hing. Liebevoll lächelnd neigte sie den Kopf. Er wirkte, als wäre er noch am Leben. Sein Antlitz war der des kleinen Jungen, den sie abgöttisch geliebt hatte. Haßerfüllt starrte sie ihre Schwiegertochter an, die in an den Türrahmen gelehnt worden war. Dieses Biest war nicht das unschuldige Bauernmädchen gewesen, wie sie allen versucht hatte vorzugaukeln. Die Schloßherrin hatte ihren Einfluß auf den über alles geliebten Sohn mit wachsendem Argwohn beobachtet. Doch nun war sie tot.
Der alte Kater miaute kläglich auf. Sie packte ihn am Nacken und hob ihn hoch. Da erkannte sie, daß sie noch immer die Mordwaffe Hand hielt. Tränen traten in ihr altes Gesicht. Sie hatte ihren Sohn damit nicht schlagen wollen. Hätte er sich ihr nur nicht von hinten genähert. Warum hatte er sie nur töten wollen? Hatte sie ihm nicht alles gegeben, was eine Mutter einem Sohn schenken kann? War der Einfluß dieses Teufels in Bauerngestalt so übermäßig gewesen?
Oh, sie hätte früher eingreifen sollen.
Ihr Gesicht nahm einen weichen Ausdruck an, als sie sich ihrem toten Sohn näherte. Liebevoll strich sie über seine bleiche Wange. Sanft fuhr sie mit der alten Hand über seine starren Augen. Sie konnte seinen Blick nicht ertragen. Waren seine strahlenden Augen nicht vor langer Zeit einmal voll Liebe zu seiner Mutter gewesen? Doch das lag weit in der Vergangenheit. Er war tot. Nichts konnte diesen Umstand ändern. Sie umfaßte ihn, um ihn gerade gegen die Lehne zu setzen. Er sollte majestätisch wirken. Sein Adelsgeschlecht war viele hundert Jahre alt.
Wütend richtete sie sich auf. Wollte sie jetzt sentimental werden? Zwei Menschen hatte sie in dieser dunklen Nacht getötet. Zwei Teufel, die versucht hatten, sie zu töten, nachdem alles andere versagt hatte. Nach fünf Jahren erbitteren Kampfes um die Macht über diese ehrlose Familie hatte der Stärkere gesiegt.
Der Tod! Sie streichelte das einzige Wesen, das immer treu zu ihr gestanden hatte. Ihr Sohn war schon vor Jahren gestorben. Der Mann in dem Sessel war ein Fremder, auch wenn er wie ihr Sohn aussah. Ihren Onkel hatte sie in den schloßeigenen Brunnen gestoßen, nachdem er versucht hatte, sich ihr unsittlich zu nähern. Sie hatte ihn gehaßt. Dem Fettwanst hatte sie die morschen Steine der Brunnenmauer hinterhergeschickt. Aus Angst um die Schloßherrin wurde das alte Gemäuer zugemauert. Seitdem wurde dieser Ort gemieden. Schaurige Geschichten ranken sich um darum. Der Geruch des Todes würde jedem entgegen wehen.
Ihr Mann war eines nachts wie wahnsinnig aus dem Schloß gerannt. Die Sterne hatten hell am Himmel gestanden. Die Lichtverhältnisse waren geeignet für einen Abendspaziergang gewesen. Doch ihr Mann hatte sich von dem Abgrund direkt über dem Strudel angezogen gefühlt. Ohne auch einmal stehen geblieben zu sein, stürzte er in das dunkle Meer. Ein Verlust war es für sie nicht gewesen. Sie hatte ihn nie geliebt. Was immer er getan hatte; es war ihr egal gewesen. Deshalb entstanden Gerüchte.
Sie zuckte mit den Schultern. Sie hatte nie viel auf diese Art von Gerede gegeben. Vielleicht hatte sie ihren Gemahl wirklich getötet? Es würde wohl nie jemand erfahren.
Sie setzte sich. Ihre Gedanken sollten sich mit dem Kommenden befassen. Doch sie sah sich geistesabwesend um. Der Tod war kein gefälliger Geselle. Ihre Schwiegertochter hatte einen größeren Lebenswillen besessen, als sie ihr zugetraut hatte. Das Schlafgemach war vollkommen zertrümmert worden. Blut befleckte die Wände.
Erst jetzt bemerkte sie, daß sie nicht ganz unversehrt aus diesem Kampf hervorgegangen war. Ihre alte Arme waren zerkratzt. Doch sie fühlte keinerlei Schmerz, den der Stolz über ihren Sieg stärkte sie. Ihr Rücken fühlte sich dumpf an. Hatte sie doch ihre Schwiegertochter über die Haupttreppe durch mehrere Gänge schleppen müssen. Hier in diesem Saal war sie ihrem Sohn begegnet, der den Tod seiner Gemahlin erstaunlich gut verkraftet hatte. Jedoch wollte er den Tod seiner Mutter trotzdem herbeiführen. Diese war ihm erst ausgewichen, hatte ihn versucht zu beruhigen. Sie wollte ihn doch nicht verlieren. Aber er hatte sein Schicksal gewählt. Trotz ihrer geringeren körperlichen Stärke hatte sie ihn mit einem Hieb getötet.
Sie roch Rauch. Einen schweren Kerzenleuchter hatte sie wahrscheinlich während des Leichentransportes umgestoßen.
Sie schlug ihre langen Finger in das verwilderte Fell des Katers. Dieser jaulte jämmerlich auf. Er versuchte sich zu befreien.
Fühlte er, was sie vorhatte?
Sie richtete sich auf. Ohne sich noch einmal umzusehen, ging sie die langen dunklen Gänge entlang. Ihr Gang war ruhig, aber etwas steif. Kein Licht beleuchtete ihren Weg.
Wußte sie, wohin sie ihre Füße trugen? Ihr Leben war das Einzige, was ihr geblieben war.
Barfuß schritt sie über den finsteren Hof der Steinküste entgegen. Der bleiche Mond versteckte sich hinter pechschwarzen Wolken. In dieser Dunkelheit schritt sie sicher am Abgrund entlang.
Einem inneren Drängen folgend, blieb sie stehen. Sie benötigte nur einen Schritt, und das der Strudel würde alles beenden. Die schäumenden dunklen Wellen zogen ihren Blick an. Die Bewegung des ungezügelten Wasser ging in ihre Seele über. Sie konnte das unbarmherzige Element fühlen. Es würde freudig aufnehmen und ihr ihre Schmerzen verscheuchen. Die Wellen würden sie umfangen und sie in eine freundliche Welt führen. Sie könnte das Glück finden, nachdem sie sich immer gesehnt hatte. Diese Welt würde sie erlösen.
Sie fühlte sich leicht. Sie glaubte, fliegen zu können. Wenn sie jetzt ihre Flügel ausbreiten würde, könnte sie das Innere des Strudels erreichen. Eine unbändige Sehnsucht erfaßte sie. Sie wollte eins werden mit den eiskalten Wellen. Sie konnte sie doch schon fühlen; diese unmenschliche Kraft, die Unsterblichkeit dieses Elementes.
Ihr Kopf streckte sich zu den Wolken. Sie schloß ihre Augen. Sie fühlte, wie die Wellen über sie zusammenschlagen würden. Das Wasser würde nicht kalt sein, nicht für sie. Es würde sie willkommen heißen.
Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Ihr Blick fiel auf den schmalen Weg. Am Ende dieses gefährlichen Pfades lag der häßliche Ort. Doch wohin könnte er sie führen? Wenn nun dahinter eine völlig neue, aufregende Welt für sie liegen würde?
Neugierde stieg in ihr auf. Sie hatte die Möglichkeit, frei zu entscheiden. Ihr Blick wandte sich ein letztes Mal dem Schloß hinauf. Es stand vollkommen in Flammen.
Die Wellen rauschten, als würden sie sie rufen, zu sich zu kommen. Ihr Augen wechselten von dem steinigen Weg zu den lockenden Wellen. Sie zögerte eine ganze Weile. Doch dann wußte sie, was sie zu tun hatte. Eine neue Welt würde sich ihr auftun.