Schwimmen
Sie spürte weiche und warme Haut, die sie an ihrem Arm streifte, an dem Ellenbogen und der Hand. Gesichter konnte sie nicht erkennen, Farben und einzelne Augenpaare rauschten an ihr vorbei. Sie blieb stehen und Ellenbogen drückten sich an ihr vorbei, ohne sie zu fühlen. Sie sah Kleider, Schuhe und Handtaschen reglos hinter Glas und ging heran, blieb stehen und zeichnete mit dem Finger die Form der Schaufensterpuppen auf das Glas, daneben drückte sie ihr Gesicht, trat einen Schritt zurück und beobachtete wie die Abdrücke sich auf das Glas legten, bevor sie Sekunden später langsam verschwanden. Die Uhr zeigte zwanzig vor. Sie blieb stehen, bis sich ihr Gesicht vollends aufgelöst hatte. Nun musste sie gehen, fast schon rennen. Sie lächelte in die nächste Glasscheibe, ihre Sommersprossen sahen sie an, die sie nicht mochte und sie streckte ihnen die Zunge entgegen. Ein Mann blieb neben ihr stehen, verfolgte eine Weile ihren Blick, der jetzt an einer Frau in Hochglanzformat geheftet war und meinte, sie wäre dafür doch noch viel zu jung, und zeigte auf das Modell, das herausfordernd jedem Blick standhielt und den Bauch einzog, der ober- und unterhalb des Nabels einfarbige Unterwäsche trug. Der Mann fragte sie, ob ihr das gefallen würde und sah sie dabei an, was ihr plötzlich, sie wusste nicht warum, unangenehm war. Sie zuckte die Schultern, sprechen wollte sie nicht. Der Mann schüttelte den Kopf und murmelte etwas, was sie nicht verstand. Einzelne Worte drangen aus seinem Mund zu ihr durch: „…die Jugend…“ und „…zu meiner Zeit…“. Das Letzte, was er mehr zu seinem Hund als zu ihr sagte verstand sie sehr gut: „Dann sollen die sich auch nicht wundern.“ Lena hörte noch seinen Stock, der sich dumpf auf den Boden drückte, als er schon längst um die Ecke gebogen war. Sie stöhnte leise, bevor sie wieder auf die Uhr sah. Ihr Blick traf noch einmal den der Frau im Schaufenster; sie lächelte nicht und drückte ein wenig die Lippen nach vorne, Lena gefiel das nicht, versuchte es aber trotzdem zu imitieren. Sie lachte und auf einmal schien es ihr, als ob das Gesicht auch ein wenig lachte. Auch ihm zeigte sie die Zunge und dachte an ihre Mutter. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie auch so etwas besaß, wollte es aber auch gar nicht, und bei dem Gedanken daran, fühlte sie sich komisch. Sie schüttelte den Kopf und ging weiter. Immer mehr Menschen kamen, sahen sie nicht und verfolgten ihr Ziel. Sie strömten im Takt leiser, klassischer Musik, die das Mädchen aus dem Schulunterricht kannte, an ihr vorbei, streiften sie ab und zu mit Handtaschen und Einkaufstüten, die meist dick gefüllt an den Handgelenken hingen und unterhielten sich entweder lautstark am Telefon, das die meisten Einkaufenden, wahrscheinlich, da sie keine dritte Hand zur Verfügung hatten, hektisch zwischen Kinn und Schulter geklemmt hatten, oder eilten stumm die Gänge entlang, immer auf der Suche. Das Mädchen sprang zur Seite, um nicht von einer Traube japanischer Touristen umgerannt zu werden, die, wie sie es aus dem Fernsehen kannte, mit Digital-Kameras, herkömmlichen Fotoapparaten und kleinen bis mittelgroßen Videokameras an ihr vorbei stürmten, um alles und jeden mit den dritten Augen aufzunehmen; für die Ewigkeit fest zu halten. Das Mädchen wünschte sich plötzlich auch eine Videokamera und dachte an ihren Vater. Sie hätte ihn gerne damit aufgenommen, denn dann könnte sie ihn immer und immer wieder anschauen. Wann und wo sie wollte. Lena wusste, dass die Menschen, die hier waren, keine Zeit hatten, dass sie immer ‚auf dem Sprung waren’. So nannte ihr Vater das. Das Mädchen überlegte, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatte und ging weiter, da es ihr nicht sofort einfallen wollte. Hier war es kälter, als beim Eingang und sie setzte sich auf einen Springbrunnenrand, um sich aus ihrer Tasche einen Pullover zu holen. Die Gesichter zogen an ihr vorbei und sie versuchte sich einzelne Merkmale zu behalten. Sie wunderte sich darüber, dass schon so viele Menschen unterwegs waren. Vielleicht lag das daran, dass heute Freitag war. Ihre Mutter wollte später auch noch mit ihr einkaufen gehen. Sie mochte das, früher noch mehr, denn da konnte sie noch immer im Einkaufswagen sitzen, während ihre Mutter sie lachend mit Lebensmitteln zupackte. Nun wurde ihr Bruder von ihr und ihrer Mutter bepackt. Er lachte dabei und dann musste Lena auch immer lachen. Eine Frau, die sie erst nicht als solche erkannte, denn sie trug eine Jacke mit Kapuze, einen Schal, der ihr Gesicht verdeckte, sowie eine weiße Hose und graue Turnschuhe, setzte sich zu ihr. Eigentlich hatte die Hose den gleichen Ton wie die Schuhe, aber das sah sie erst nach dem sie sich traute noch einmal hinzusehen. Die Frau lachte sie an und als sie den Mund öffnete, sah Lena nur den Gaumen und war froh, als der Mund wieder geschlossen wurde. Eine Hand, ziemlich dunkel, wühlte nun lange in einer Plastiktüte mit blauweißen Streifen. Ihre Mutter lehnte es ab, in dem Geschäft zu dem die Tüte gehörte, einkaufen zu gehen. Ihr Vater fand, dass sich ihre Mutter anstellte und nicht so borniert sein sollte, aber da er sowieso nichts im Haushalt zu sagen hatte, gab er es bald auf. Lena wusste nicht, was er mit ‚borniert’ meinte, aber sie fand das Wort klinge gut und manchmal sagte sie es zu Isabelle, wenn sie sich ein bisschen stritten. Isabelle und ihr Vater sahen sich noch nicht einmal am Wochenende. Ihr Vater lebte in Frankreich. Dort war Isabelle auch zur Welt gekommen. Sie war erst vor kurzem in ihre Klasse, auf ihre Schule und in die Stadt gekommen. Isabelles Mutter unterhielt sich jetzt auch schon häufiger mit ihrer, wenn sie von der Schule abgeholt wurden. Den beiden Mädchen gefiel das, besonders Lena. "Was machst du hier, Kleine?", fragte eine gepresste, leise Stimme, die ein bisschen, wie der alte Plattenspieler ihres Vaters klang, wenn sich keine Platte auf ihm drehte. Lena mochte das Geräusch, auch wenn sie es schon lange nicht mehr gehört hatte. Die Frau fragte weiter, ob sie nicht zu dieser Zeit in der Schule sein müsste und drehte ihr Schild mit der Aufschrift: ‚Ich habe Hunger’ fortwährend hin und her. „Müsstest du nicht in der Schule sein und fleißig lernen?“ Die Frau lachte scheppernd und Lena versuchte ein Stück von ihr weg zu rücken, ohne aufzufallen. Die Frau folgte ihr aber und sah ihr dicht ins Gesicht, was Lena einen Schauer über den Rücken jagte und eine Gänsehaut auf ihren spüren ließ.Sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen fest aufeinander. „So, so“ murmelte die Frau, die für das Mädchen weder jung noch alt war, aber bei näherem Hinsehen doch eher alt, bevor sie wieder schepperte. Lena antwortete nicht und wollte aufstehen. Die Frau hielt sie zurück, sagte sie solle noch ein wenig bleiben und deutete auf das Schild und die Menschen, die an ihnen vorüber gingen, ohne ihnen auffallend viel Aufmerksamkeit zu schenken. Dem Mädchen wurde warm, sehr warm und sie glaubte, wenn sie nicht bald von der Frau, die sie nun ein wenig an eine böse Hexe von ihrer Lieblingskassette erinnerte, weggehen konnte, müsste sie sich übergeben, denn die Fremde roch, erst ein bisschen, dann immer mehr, wie die Jungentoiletten in der Schule. Nun wollte Lena gerne in der Schule sein und wusste nicht mehr, warum sie nicht im Matheunterricht neben Isabelle saß. "Du bist gut fürs Geschäft. Du bist dünn und vor allem bist du süß!". Die Frau zeigte auf Lena, dann auf ihr Schild und wimmerte vor sich hin. Es schepperte jetzt noch einmal, aber nicht aus ihrem Mund, sondern von einem angeschlagenen Teller, der schmutzig und beinah vollständig leer vor ihren Füßen stand. Sie nickte und lachte noch einmal. Lena wollte nicht mehr neben ihr sitzen. „Ich muss jetzt aber gehen.“ Ihre Stimme wurde von Wort zu Wort leiser und das ärgerte sie. Die Frau ärgerte sich offenbar auch, denn sie schüttelte den Kopf und deutete noch einmal auf das Schild. „Kleine, du musst mir helfen. Ich habe Hunger.“ Wieder lachte sie und drückte Lena neben sich. Lena fühlte den Schlag des Herzens in der Brust. Nach einer Weile, in der sie überlegt hatte, wie sie von der Alten wegkommen konnte, sagte sie, nachdem sie sich dreimal geräuspert hatte, sie müsse aber gehen, ihre Mutter warte auf sie, mit dem Essen und sie dürfe nicht zu spät kommen. „Du hast es gut, Prinzessin. Dein Mütterchen wartet mit dem schönen, warmen Essen und bringt dich danach in das schöne, warme Bettchen!“ Lena war jetzt wirklich übel und das nicht nur, weil sie plötzlich ebenfalls ihren leeren Magen fühlte. Die Gesichter blieben manchmal stehen. Dann schüttelten die meisten von ihnen den Kopf oder seufzten leise. Die Alte schimpfte. Ihr habe man nicht Puderzucker in den Arsch geblasen und sie mit Moos zugedeckt. Sie wollte Lena in die Wange greifen, sie kneifen, aber ein herankommender Mann, der der Alten mit der Polizei drohte, betteln wäre im Einkaufszentrum nicht erlaubt, hinderte sie daran ihren Plan in die Tat umzusetzen. Der Mann sah Lena an und fragte, ob alles in Ordnung wäre. Diese nickte lächelnd. Die Alte meckerte immer noch, sie habe Hunger und weigerte sich ihren Platz aufzugeben. Er lächelte Lena zu, so als müsse er sich für etwas entschuldigen und griff nach dem Arm der Frau, die ihm nun versuchte vor die Beine zu treten. Der Mann sagte ruhig, aber mit lauter Stimme, er könne auch die Polizei rufen. Er legte seine Hand an einen schwarzen Stock, der an seiner rechten Hüfte in einer Art Gurt hing. Die Frau nickte, murmelte etwas, griff nach Teller und Schild und verstaute alles wieder in ihrer Plastiktüte, die sie sich über den Rücken warf. Lena hielt sie zurück und durchsuchte, ähnlich wie vorhin die Schimpfende, ihre Tasche. Als sie fand, was sie gesucht hatte, legte sie es in die schmutzig dunklen Hände, die, wie sie jetzt merkte, stark zitterten. Die Frau verstummte augenblicklich, starrte auf den Inhalt ihrer Hände, bevor sie unsicher zu Lena blickte, die sich inzwischen neben den Wachmann gestellt hatte. Das Mädchen nickte und erklärte, es wäre mit Salami und Gurke. Sie brauche es heute sowieso nicht mehr. Die Alte nickte, zitterte noch ein bisschen stärker, räusperte sich, wischte sich über die Augen und ließ das Päckchen, wie einen Schatz, in die Tasche ihrer Jacke gleiten. „Das ist aber nett von dir.“ Der Wachmann lächelte, dann drehte er sich zu der Frau um, die immer noch regungslos vor dem Brunnen stand und sich immer wieder übers Gesicht fuhr. „Und du sagst noch nicht mal danke. So wie ich euch kenne, brauchst du sowieso nur flüssige Nahrung, nicht wahr? Verschwinde und komm nicht wieder!“ Die Frau humpelte davon, angetrieben von Rufen des Wachmanns, und tauchte in einer Gruppe Jugendlicher unter, die offenbar mit ihrem Lehrer einen Ausflug machten und sich langsam zum Ausgang vorschoben. Der Mann lachte und sah Lena an, fragte sie, ob sie nicht eigentlich in die Schule müsse. Das Mädchen nickte. „Na dann, aber ab mit dir, Mädchen!“ lachte er weiter und Lena hatte plötzlich das dringende Bedürfnis zu ihrer Mutter zu kommen. Das hatte sie in letzter Zeit eher selten gefühlt, aber nun konnte sie sich nichts schöneres vorstellen, als neben ihrer Mutter im Auto zu sitzen, den schlafenden Bruder im Kindersitz auf der Rückbank und ihre Lieblingsmusik im Kassettenrecorder. Sie fragte den Mann, wie spät es wäre und als er ihr die Zeit nannte, war sie erleichtert; sie hatte noch eine Viertelstunde, dann würde das Auto auf dem Schulhof stehen. Isabelle wollte ihre Mutter ablenken, sollte sie doch noch nicht da sein. Morgen wollte dann Isabelle einen kleinen Ausflug machen. Isabelles Mutter hatte ihr, so hatte sie es zumindest berichtet, erzählt, dass sie mit ihrer besten Freundin auch schon mal nicht in die Schule gegangen war. Aber Lena hatte ihre Mutter noch nie so etwas reden hören und diese wäre bestimmt auch nicht sehr begeistert. Deswegen hatten sich Isabelle und sie darauf geeinigt, sich gegenseitig von ihren Erfahrungen zu berichten und nicht gemeinsam zu gehen, so war es weniger auffällig. Lena drehte sich um und reihte sich in eine bunte Menschengruppe ein, die mit vielen Tüten dem Ausgang entgegen strömte. Sie ließ sich treiben und tragen, während sie den Springbrunnen und den Wachmann, mit seinem Stock und seiner lauten Stimme, nur noch hören konnte. Lena nahm sich vor, ihre Mutter heute zu umarmen und den Duft an ihrem Hals zu ignorieren, denn es würde wieder einmal nicht der Duft ihres Vaters sein. |