Donnerstag, 03. Juli

Veröffentlichung von fs vom 25.02.2006 in der Rubrik Leben.

 

Schmetterlingstränen



Letzte Nacht hatte ich einen Traum, ich träumte ich sei ein Schmetterling. Jetzt weiß ich nicht mehr: bin ich ein Mensch der träumt ein Schmetterling zu sein, oder ein Schmetterling, der glaubt er sei ein Mensch.
(aus China)



Schmetterlingsaugen treffen Menschenaugen. Schwarz auf Braun. Braun auf Schwarz. Sie sehen sich an. Der kleine Schmetterling auf dem Strauch, sitzend, der große Mensch auf der Wiese, stehend. Der eine bunt, mit kunstvoll bemalten Flügeln, der andere eintönig, mit blasser Haut, blaue Jeans, schwarze Jacke. So völlig verschieden. Zwei fremde Welten. Sie sehen sich an. Schwarz trifft auf Braun. Braun trifft auf Schwarz. Nur für den Bruchteil einer Sekunde.
Die Zeit scheint still zu stehen, die Armbanduhr des Menschen tickt nicht mehr. Die Wolken haben aufgehört über den Himmel zu wandern. Kein Luftzug bewegt die Blätter des Strauchs. Sie schauen auf den Schmetterling und den Menschen. Abwartend. Neugierig. Kinder laufen schreiend herum, Eltern sehen ihnen zu. Sie sehen nicht das ungleiche Paar. Der Schmetterling und der Mensch bemerken nichts von alle dem. Wo die beiden fremden Welten sich treffen entsteht eine neue Welt. Nur für sie alleine. Für den Bruchteil einer Sekunde. Sie sprechen mit Blicken.
Ich wünschte, ich hätte Flügel wie du, kleiner Schmetterling, sagt der Mensch. Flügel zum weit weg fliegen, Flügel zum frei sein.
Ich wünschte, ich hätte Augen wie du, großer Mensch, sagt der Schmetterling. Augen um die Welt in einem Stück zu sehen, Augen um zu weinen.
Warum willst du weinen, kleiner Schmetterling? fragt der Mensch. Du bist doch wunderschön und kannst gehen wohin du auch willst.
Warum willst du fliehen, großer Mensch? fragt der Schmetterling. Du bist doch so groß und kannst dich gegen alles wehren.
Ich möchte weg von diesem Leben in dem ich nicht leben kann, denn ich bin gefangen in dieser Welt, antwortet der Mensch.
Ich möchte weinen über meine Ängste, über meine Schmerzen, denn die Tränen, die ich nicht weinen kann höhlen mich aus, antwortet der Schmetterling.
Nur Blicke, keine Worte. Der Schmetterling wird zum Mensch. Der Mensch wird zum Schmetterling.
Der Mensch im Körper des Schmetterlings begreift. Er spürt das Gefühl der Freiheit, das er so verzweifelt gesucht hat, aber noch mehr spürt er Emotionen. Angst vor Regen und Spinnennetzen, die die Flügel verkleben. Trauer über die Einsamkeit. Verzweiflung über die Gewissheit nur diesen einen Sommer zu erleben.
Der Schmetterling im Körper des Menschen erkennt. Er spürt das Gefühl der Stärke, er kann die Welt in einem Stück sehen, aber da sind noch Gefühle. Das Gefühl von der Welt und den Menschen darin erdrückt zu werden. Das Gefühl sich selbst zu verlieren. Verzweiflung darüber fast ewig zu leben.
Ich möchte weinen, sagt der Mensch. Er bewegt ganz sachte und vorsichtig seine Flügel.
Ich möchte fliegen, sagt der Schmetterling. Glitzernde Tränen rinnen über seine Wangen.
Sie teilen beide die Erkenntnis: Die Erfüllung der Sehnsucht hat ihren Preis.
Der Mensch ein Schmetterling. Der Schmetterling ein Mensch. Nur ein Wimpernschlag.
Der Schmetterling auf seinem Zweig bewegt die Fühler. Der Mensch auf seiner Wiese blinzelt. Zwei fremde Wesen. So völlig verschieden und sich doch so ähnlich. Zwei fremde Welten, nicht länger ein Geheimnis für einander. Denn für einen Wimpernschlag waren sie eins. Der Mensch, der Schmetterling, ihre Welten. Für einen Wimpernschlag waren sie nicht länger alleine. Sie haben es nicht vergessen.
Die Armbanduhr des Menschen beginnt wieder zu ticken und die Zeit läuft scheinbar unermüdlich weiter. Die Wolken nehmen wieder ihren Pfad am Himmel auf. Der Wind streift wieder durch die Sträucher. Er nimmt den Schmetterling mit sich und trägt ihn fort. Der Mensch geht über die Wiese auf die Häuser der Stadt zu und verschwindet in der Masse. Nichts mehr erinnert an die Begegnung zwischen dem Schmetterling und dem Mensch. Sie gehen beide ihrer Wege. Und doch haben sie es nicht vergessen. Ein Mensch kann kein Schmetterling sein und ein Schmetterling kein Mensch. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Als Schwarz auf Braun traf und Braun auf Schwarz. Lang genug um zu erkennen. Vielleicht auch gerade lang genug um wieder zu leben. Einen Sommer. Fast eine Ewigkeit.



 
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Schwarz   Sehen   Weinen   Fluegel   Menschen  Braun
 

Kommentare zum Text "Schmetterlingstränen":

ßi
schreibt am
02.03.2006 (00:11 Uhr)

wunderschöner text!

fühlt sich wie ein ausformuliertes gedicht an, halt nicht (ge)dicht(et) sondern weit. Nur für die vielen Freiräume, die für interpretation usw. noch bleiben und gerade auch für das gedichthafte wichtig sind, ist es ein wenig lang. das liegt vor allem an einleitung und ausklang.
Ich würde sagen: das einleitende chinesische gedicht ist zu kurz für deinen zusatz/zutat und dein text könnte verdichteter sein.
muss er aber garnicht - ich häng mich da gerade an der quantität auf, weil ich wohl son verquaster großstadtjunge bin, der meint keine zeit mehr für die schönen dinge zu haben - naja, es wird ja langsam wieder sommer... however!

es ist ein toller text, der die thematik gut ausleuchtet und ein warmes bauchgefühl zurücklässt.


 
fs
schreibt am
03.03.2006 (12:21 Uhr)
Anmerkung der Autorin

ich habe mich nur die ganze Zeit gefragt, ob Schmetterlinge weinen können und wie das wäre, wenn man nicht weinen könnte.
das einleitende Zitat ist eins meine lieblingszitate und steht nicht unbedingt im direkten Bezug zu der Geschichte. Es sollte nur hinführen...oder so was in der art...
ansonsten muss ich zu meiner Verteidigung vorbringen, das ich seit fast einem Jahr nicht mehr geschrieben habe und das die erste Geschichte seit dem ist...allso habt nachsicht. und grade deshalb freunt es mich, das die erste kritik, die ich zu diesem text bekomme so positiv ist. danke, du hast mich gerettet. vielleicht kann ich jetzt auch endlich wieder schreiben...


 

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