Donnerstag, 03. Juli

Veröffentlichung von AG vom 01.03.2006 in der Rubrik Leben.

 

Der Maiskolbenmann ? mit Anton II (2005)

Neulich begleitete ich Anton zum Bahnhof Zoo. Er treibt sich ja des Öfteren dort herum. Der Bahnhof Zoo ist ein Ort, an dem sich so einige skurrile Personen tummeln. Anton gehört wohl auch dazu. Dieses Mal trafen wir auf den Maiskolbenmann.
Der Maiskolbenmann ist ein dicker, wirklich außerordentlich dicker Mann. An jenem Tag saß er in einem Rollstuhl und bemühte sich mit seinen Vorderzähnen einen Maiskolben zu bearbeiten. Dabei blieb weder seine Kleidung, noch der Rollstuhl, noch die nähere Umgebung verschont: Überall lagen die schilfartigen Blätter des Maiskolbens verstreut. Die kleinen gelben Körner zierten seinen Bauch.
Ich bin gar nicht mal sicher, ob der Maiskolbenmann überhaupt ein Mann ist. Sein Leib ist zu dick und aufgedunsen, das hätte alles sein können: eine Frau mit großer Oberweite (das hätte Anton gefallen), ein Mann mit Übergewicht, - - - es ist wahrscheinlich nicht einmal ein Mensch.
Eigenartig erschien mir, dass die Zähne des Maiskolbenmannes merklich größer sind, als das bei (dicken) Menschen normalerweise der Fall ist. Vielleicht handelt es sich bei dem Maiskolbenmann um eine sprunghafte Mutation, die durch den Verzehr von genbehandeltem Mais zu dieser Körperfülle herangewachsen war. Meine Vermutung wurde dadurch gestützt, dass sich in seiner Begleitung eine Person befand, die ? nicht minder skurril ? den vorbeieilenden Passanten weitere Maiskolben anbot. Mehr als merkwürdig war auch ihre unverständliche Lautsprache, mit der sie sich versuchte bemerkbar zu machen. Die Passanten, die auf diese Art und Weise angesprochen wurden, gingen nur verständnislos vorbei und schüttelten leicht ihren Kopf ? nicht zu heftig. Nie würden sie sich in aller Öffentlichkeit über die skurrilen Personen am Bahnhof Zoo, über mutierte Merkwürdigkeiten oder Märchenhaftes eschoffieren können.
Auch Anton wurde angesprochen. Freundlich nahm er einen der Maiskolben entgegen und schenkte seinem Gönner ein herzliches »Für mich? Danke!«. Noch etwas verwundert, doch sichtlich erfreut, zupfte er unbeholfen an den Blättern des Kolbens. Der Maiskolbenmann, welcher die Geste seines unterwürfigen Begleiters mit einem zufriedenen Nicken bekräftigte, schien sich über die Zuwendung eines Passanten derart zu freuen, dass ihm ein bebendes Lachen durch den Leib fuhr. Sein Rollstuhl wackelte, Maiskörner flogen umher, auch das eine oder andere ließ sich auf Antons dunkelgrüner Jacke nieder. Anton gab mit seiner Geste dem Maiskolbenmann und seinem Begleiter zu verstehen, dass sie eine wichtige Erscheinung, ja Bereicherung unserer Zeit seien, so formulierte er es zumindest. Ebenso betonte er, dass man auf skurrile und märchenhafte Bereicherungen nur am Bahnhof Zoo stoßen könne.
Aber warum sollten sich diese Bereicherungen gerade am Bahnhof Zoo aufhalten, fragte ich Anton. »Aber das ist doch klar«, kam seine spontane Antwort. »Erst seit die Debatte aufkam, den Bahnhof Zoo im wahrsten Sinne des Wortes aufs Abstellgleis zu verlegen, leuchtet den Menschen ein, dass es sich bei diesem Ort um einen modernen Mythos handelt. Und ein Mythos zieht selbstverständlich auch merkwürdige und märchenhafte Gestalten an. Klare Sache!«

 
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Maiskolbenmann Anton Bahnhof  Passanten Rollstuhl Maiskolben
 

Kommentare zum Text "Der Maiskolbenmann ? mit Anton II (2005)":

سئ
schreibt am
28.04.2006 (14:02 Uhr)

ich muss zugeben, dass ich recht wenig mit deinen texten anzufangen weiß. die bilder, die du aufbaust, sind in ihrer art widerlich, schon weil du körper und geist des menschen auf merkwürdige art zu trennen scheinst, um den körper als verbliebene organische masse föhlich zu malträtieren. ich finde die bilder dabei nicht einmal uninteressant, gerade die in deinem aussteiger-text, aber deuten kann ich sie nicht.
sprachlich haken deine texte für meinen geschmack zu sehr, wodurch es mir schwer fällt, meinen elan zum lesen derartig langer texte aufrechtzuerhalten. alles in allem weiß ich also nicht so recht, was ich dazu sagen soll, dachte aber, es wäre interessant, diese bisher so unkommentierten texte kurz in die aufmerksamkeit des diskurses zurückzuziehen.


 
Alexander
schreibt am
28.04.2006 (15:16 Uhr)

Danke für dein Feedback, wer immer es auch schrieb.

"sprachlich haken deine texte"
An was denkst du konkret?

"schon weil du körper und geist des menschen auf merkwürdige art zu trennen scheinst"
Zeige ich hiermit nicht ein wesentliches Muster in all unserer Handlung auf?

"sind in ihrer art widerlich"
Dann sind sie doch gelungen, oder?

Viele Grüße





 
سئ
schreibt am
29.04.2006 (06:31 Uhr)

sprachlich haken deine texte: nun, was ich meine ist ziemlich konkret der subjektive eindruck, daß sie sich schwer lesen. in diesem mag es sogar gehen und ich würde diese kritik vor allem auf die beiden voangegangenen beziehen, aber gerade diese enthalten wendungen, an denen man sprachlich ins stocken gerät, die einen rausreissen aus einer atmosphäre, die man vor seinem inneren auge aufbaut. und das raubt ein wenig den elan zum lesen derart langer texte. mir zumindest.
trennung von körper und geist: nun ich denke der mensch und seine umwelt malträtieren sowohl körper als auch geist, aber in aller regel erfährt er dabei nicht diese trennung. in deinen texten, und auch dies bezieht sich gerade auf den ersten, tust du das ziemlich extrem. ein mensch bei der nüchternen betrachtung der selbstkastration, der geist, der über seinen eigenen entstellten körper wacht und rational urteilt. das ist in jedem fall extrem. es ist künstlerisch gut dargestellt und interessant, aber an dieser stelle fiel es mir schwer zu deuten, worauf du eigentlich hianus willst.
widerlich: das ist weniger wertung als charakteristik. sie sind es durchaus, sie sind halt extrem und wie gesagt nicht uninteressant. künstlerisch durchaus gelungen, wenn man es auf eine mir nicht greifbare aussage bezieht. vom menschlichen aspekt her beraubst du den menschen aber all dessen, was ihn zum menschen macht und konfrontierst den leser damit. das ist nicht ungeschickt, aber da es letzlich schwer zu deuten bleibt, verbleibt auch lediglich der eindruck des widerlichen.
das war in etwa was ich meinte. es ist jetzt spät, ich geh jetzt schlafen. good night and good luck...


 
Alexander
schreibt am
29.04.2006 (11:30 Uhr)

"an denen man sprachlich ins stocken gerät, die einen rausreissen aus einer atmosphäre, die man vor seinem inneren auge aufbaut."

In der Musik z.B. machen gerade solche Stellen, in denen die Stimmung wechselt den Reiz aus. Ich denke, es ist im Sinne des künstlerischen Ausdrucks, dass es gerade jene nicht vorhersehbaren Stellen gibt. Alles andere wäre reine Unterhaltung. Ich neige dazu, im literarischen Experiment genau solche "Stellen" auszuloten. Zugegeben, nicht immer sind die dann sonderlich originell, aber das Risiko gehe ich gerne ein. Die beiden erste Texte sind "Frühwerke", hier braucht es in der Tat noch etwas Formschliff, aber der Maiskolbenmann ist eine aktuellere Erzählung.

Zum Thema Geschlecht in der ersten Geschichte. Die Frage, welches Geschlecht man "besitzt" soll in der Geschichte thematisiert werden. Denn es ist ja m.E. gerade nicht so, dass unser Leib dem Geist vorschreibt, dass ich männlich oder weiblich bin. Das ist eine (geistige) Vereinbarung, mehr nicht, eine Konvention, die man sich - so traurig das ist - in derartigen extremen Situationen (gedanklich) bewusst machen kann.

Viele Grüße


 
..
schreibt am
08.09.2006 (01:00 Uhr)

mal wieder vorbeigeschaut, und beschlossen, doch noch mal zu kommentieren. ich glaube nicht, dass geschlecht eine ausnahmslos soziale konstruktion ist, ich denke schon, dass es eine gewisse form von biologischer praegung gibt, die sich in der ein oder anderen weise auch in den trieben widerspiegelt.. was man damit macht oder begruendet, oder ob sich daraus die legitimation herleiten laesst, etwas als abnormal zu bezeichnen, das ist eine ganz andere frage. den maiskolbenmann finde ich nachwievor eher nicht so gelungen, der andere (anton 2.? - name grad entfallen) gefaellt mir da bei weitem besser..


 

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